Wenn ich neue Menschen kennenlerne und erzähle, wo ich wohne, sorge ich meist für verwirrtes Stirnrunzeln. Denn ich lebe in einem Kloster – bin aber keineswegs Ordensschwester. Ich wohne im Kloster Triefenstein mit meinem Mann – und einigen Freunden. Aus dem Stirnrunzeln wird ein Staunen, wenn die neuen Bekannten mich besuchen: Das Klostergelände in der Nähe von Würzburg ist eine Idylle: direkt am Waldrand gelegen, auf einem Hügel oberhalb des Mains. Wir haben einen Obstgarten, mehrere Brunnen und Schafe, ein Spielplatz liegt gleich am Rand der barocken Gartenanlage. Die Kirche ist über und über gefüllt mit riesigen Gemälden, kleinen Engeln, Marmorsäulen, Stuck und Gold. Eine Schreinerei gehört zum Gelände, ein Sportplatz, die Kellerkapelle.
Kloster Triefenstein am Main hat eine lange Geschichte des Betens und Arbeitens: Schon vor mehr als 900 Jahren stand hier eine Kapelle. Im Jahr 1102 wurde an dieser Stelle ein Stift der Augustiner Chorherren gegründet, in dem Mönche lebten, beteten und arbeiteten. 1803 löste Napoleon das Stift auf und übergab Gebäude und Ländereien an eine Fürstenfamilie. Das ehemalige Kloster diente zeitweise als Schloss, als Gaststätte oder als Flüchtlingslager. Nach dem Zweiten Weltkrieg nutzte die Bundeswehr die mittlerweile ziemlich ramponierten Gebäude als Lager für Lazaretteinrichtungen. 1986 kaufte die Christusträger Bruderschaft das einstige Kloster. Gemeinsam mit vielen ehrenamtlichen Helfern renovierten die Brüder der evangelischen Kommunität fünf Jahre lang die Gebäude und bauten sie zu einem Gästehaus für Familienfreizeiten, Gemeindegruppen und Seminare aus.

Weggemeinschaft
Und nun wohne auch ich hier. In unserer kleinen Weggemeinschaft. Momentan sind wir fünf Erwachsene und drei Kinder. Bevor wir hierherzogen, hatten wir schon alle unsere Geschichte mit der Bruderschaft. Manche von uns waren bereits als Kind im Gästehaus oder haben hier nach dem Schulabschluss einen Freiwilligendienst geleistet. Kennengelernt haben wir uns im Netzwerk rund um die Bruderschaft. Nicht nur die Jesus-Liebe und Gastfreundschaft der Brüder hatten wir alle schätzen gelernt, sondern uns alle faszinierte auch der Gedanke, mit anderen Christen in Gemeinschaft zu leben, um Leben und Glauben zu teilen. Also lernten wir uns besser kennen, beschlossen es zu wagen und zogen 2020 alle nach Triefenstein.
Nun sind wir seit vier Jahren gemeinsam unterwegs und bringen uns an unterschiedlichen Stellen im Gesamtgefüge ein. Drei von uns sind hier angestellt; die anderen unterstützen ehrenamtlich: von der Pflege der Grünflächen im Außengelände über die Begleitung der jungen Menschen im Freiwilligendienst, die Gestaltung von Gottesdiensten, spontane Aushilfen im Küchenteam bis hin zur Leitung von Freizeiten. Außerdem leben seit Frühjahr 2022 einige Ukrainerinnen bei uns, die wir mit der Hilfe eines Teams aus Ehrenamtlichen unterstützen. Auch Hilfstransporte zu Kooperationspartnern in Rumänien, die die Hilfsgüter weiter in die Kriegsgebiete bringen, haben wir in den letzten Jahren organisiert.
Zusammenleben gestalten
Mit der großen Christusträger-Familie im Kloster feiern wir jeden Dienstagabend gemeinsam Abendmahl und nehmen uns nach dem Abendessen etwa eine Stunde Zeit, um aufeinander zu hören: Brüder, Familien und Mitlebende teilen hier ihre unterschiedlichen Alltagserfahrungen. Als Weggemeinschaft nehmen wir uns jeden Donnerstagabend aus dem Trubel des großen Miteinanders im Kloster heraus. Wir treffen uns dann in einer unserer Wohnungen zum gemeinsamen Abendessen. Es ist die Zeit, um bewusst aufeinander zu hören. Auch die Kinder sollen ihren Platz haben und von ihrem Tag erzählen können, wenn sie das möchten. Diese Gemeinschaftsabende schließen wir immer mit einem Nachtgebet ab. Dabei folgen wir einer simplen Liturgie, die sich im Ausprobieren Stück für Stück entwickelt hat und zu der auch Brüder und andere Mitlebende eingeladen sind.

Darüber hinaus teilen wir im Alltag vieles informell: Mal wird ein Auto ausgeliehen, ein anderes Mal spontan auf der Terrasse gemeinsam gegrillt. Die Hängematten und Gartenstühle werden gemeinsam genutzt, von den Himbeersträuchern naschen die Kids ebenso gern wie Ludwig, der sie gekauft und eingepflanzt hat. Sogar Weihnachten haben wir 2022 miteinander gefeiert – ohne dass es deshalb gleich zur Regel werden muss.
Diese Freiheit auszuprobieren, welche Formen des Teilens und der Gemeinschaft zu uns passen, und das gegenseitige Vertrauen genieße ich sehr. Manche Regelmäßigkeiten haben sich im Laufe der Zeit etabliert, andere Ideen werden auch wieder verworfen.
Daneben beschäftigt uns die Frage, wie wir in Zukunft noch mehr Verantwortung in Triefenstein übernehmen. Denn im Laufe dieser ersten Jahre in Triefenstein wurde offenbar: Wir könnten die nächste Christusträger-Generation in Triefenstein sein. Nicht als Brüder, aber doch in ihrem Sinne.
Im Gespräch mit anderen Gemeinschaften haben wir festgestellt: Es scheint einzigartig zu sein, sich einerseits als Gemeinschaft neu zu formieren und sich andererseits gleichzeitig an etwas Bestehendes anzuschließen. Typischerweise schließen sich Menschen mit Sehnsucht nach einem Leben in Gemeinschaft entweder einer bestehenden Kommunität an oder erfinden ihre Gemeinschaft von Grund auf neu. Wir haben einen dritten Weg gewählt: Wir erfinden Neues und ordnen uns gleichzeitig in Bestehendes ein.
Wir erleben das als Herausforderung und Potenzial zugleich. Denn wir haben viel mehr Möglichkeiten und Ressourcen, als wenn wir uns ohne die Christusträger auf den Weg gemacht hätten. Gleichzeitig bestimmen wir nicht allein, wohin es geht. Sofort sind viele Menschen mit auf dem Weg, die an dem interessiert sind, was wir uns vorstellen und tun. Für den Transformationsprozess, in dem sich Altbewährtes und frische Ideen miteinander verbinden, brauchen alle Beteiligten einen langen Atem.

Aufarbeitung von Missbrauch
Sich einer Kommunität anzuschließen, bedeutet auch, Teil ihrer Geschichte zu werden. Aktuell beschäftigt uns auch ein belastender Aspekt der Vergangenheit: Im Oktober 2023 veröffentlichte die Bruderschaft einen knapp hundertseitigen Bericht zu sexuellem und geistlichem Missbrauch in ihrer Gemeinschaft.
Die Schlüsselfigur war Otto Friedrich, der Gründer und erste Prior der Gemeinschaft. Mitte der 90er-Jahre flog er auf, woraufhin er als Prior abgesetzt wurde und die Gemeinschaft verlassen musste. Seit 2021 hat nun eine Expertengruppe Gespräche mit ehemaligen Brüdern und Betroffenen geführt und Dokumente ausgewertet, um in diesen Teil der Geschichte umfassend Einsicht zu nehmen. Der daraus entstandene Bericht wurde den Brüdern im Sommer 2023 vorgestellt und im Oktober nach außen bekannt gemacht.
Wir von der Weggemeinschaft sind froh, dass die Bruderschaft endlich öffentlich über diesen Teil der Vergangenheit spricht. Ebenso erleben wir, wie die Brüder den Prozess der Aufarbeitung weiterführen: Im Dezember fand ein moderiertes Treffen mit ehemaligen Brüdern statt; einer der Brüder ist inzwischen dazu beauftragt, die Aufarbeitung im Blick zu behalten und zu koordinieren. Außerdem wird kontinuierlich am Präventionskonzept weitergearbeitet, das bereits 2010 angestoßen wurde. Das alles stimmt mich zuversichtlich, dass es gelingen kann, im Transformationsprozess neue Strukturen zu etablieren, die helfen, Machtmissbrauch in Zukunft zu verhindern.
Lust auf Veränderung
Der Blick zurück ist schmerzhaft. Vielleicht aber erdet uns das Wissen, dass menschliches Zusammenleben immer auch dunkle Schatten werfen kann. Unser Blick als Weggemeinschaft ist nicht naiv. Und doch lebt in uns auch die Abenteuerlust weiter, die Lust zu gestalten. Schon im kommenden Sommer wird sich unser Alltag wieder verändern: Zwei Familien werden neu zu uns stoßen und in unserer großen Kloster-Gemeinschaft sicher manches aufwirbeln. Zusätzliche Hände werden da sein zum Anpacken, neue Perspektiven werden Diskussionen beleben, es wird bunter, lauter, lebhafter – und natürlich jünger werden, wenn fünf weitere Kinder einziehen.
Als Weggemeinschaft haben wir uns bewusst einen Namen gegeben, der Dynamik und Flexibilität ausdrückt. Wir teilen ein Stück unseres Lebenswegs und wissen noch nicht, wohin er uns führen wird. Es wird sich zeigen, wie steil oder kurvig er sein wird. Bei allen notwendigen Strukturen, die wir schätzen, wollen wir gleichzeitig in Bewegung bleiben.